Vademekum Santiago - Spirituelle Hinweise

Der Autor Gonzalo Torrente Ballester (1910-1999) hat in seinem Buch "Santiago de Compostela - Ein Pilgerlesebuch", Verlag Ludwig, Kiel 2007, Hinweise zum intensiven Besuch von Santiago de Compostela und seiner Heiligtümer gegeben.

Diese Hinweise werde ich im folgenden zitieren, mit Dank an den Verlag zur Zustimmung!

"Sechs spirituelle Hinweise

Beachte bei deinem Rundgang durch Compostela die folgenden Hinweise, für ein lauteres Gemüt und als Ratschlag, der auf jahrhundertelanger Erfahrung beruht:
Erster Hinweis - Nachdem du dein Gepäck im Schrank verstaut und den Staub der Reise abgeschüttelt hast, verabschiede dich von jeglicher Eile. Die Wahrnehmung der Zeit ist hier eine andere. Denn die Minuten nehmen am diesem Ort unvermutete Dimensionen an, dein Herzschlag wird zum neuen Zeitmaß.
Es wird dir nicht schwerfallen, die Ewigkeit zu spüren, nicht nur in den Steinen, den Formen und den Sternen, sondern in dir selbst. Wenn es dir gelingt, dich mit den Augen der Seele zu betrachten, wirst du merken, dass auch du unsterblich bist.
Zweiter Hinweis - Wenn der Mensch seine eigene Unsterblichkeit erkennt, so sieht er sich Gott gegenüber. Du wirst ihm spätestens in Compostela begegnen, sei es außen oder in deinem Inneren, denn er ist überall. (Wenn du nicht an Gott glaubst, dann tu zumindest so.)
Der Herr offenbart sich in einem Flügelschlag betender Engel, die ihr Antlitz vor der Majestät Gottes verbergen. Lass diese Rauschen nicht verloren gehen. Bleib achtsam. Dann ist es dir vielleicht vergönnt, die Worte des Trisagions zu hören - jenen Hymnus zum Lob der göttlichen Trinität, den man nur in Compostela und an wenig anderen Orten vernimmt.
Dritter Hinweis - Möge deine Glaubensrichtung nicht das Schöngeistige sein. Einzig der in Stein gehauenen Kunstwerke wegen nach Compostela zu pilgern, ist Zeitverschwendung, eine Vergeudung von Ewigkeit gleichsam.
Denn offenbart sich uns Gott, damit der Mensch dies auf einen Vers, auf ein paar Takte Musik zusammenstreicht?
Suche im Dunkel deines Selbst jene hellleuchtende Stelle, die Gott mit seiner Hand berührt hat. Daselbst wirst du deinen Glauben finden. Lebe und bewahre ihn, oder nimm den nächsten Zug und geh.
Vierter Hinweis - Wenn dein ganzes Sein so gebebt haben wird wie das Gezweig der Bäume vor einem heftigen Sturm, wirst du begreifen, dass sich dein Blick auf die Dinge gewandelt hat, und du wirst verstehen, dass auch die Kunstwerke Gebete sind. Dann wirst du beten wollen, und du wirst diesen Wunsch nicht im Zaum halten, sondern ihm die Pforten seiner Seele öffnen. Es ist der Hauch Gottes, der Psalmen moduliert, wenn er über die steinigen Pfade des Geistes weht.
Fünfter Hinweis - Sei nicht überheblich: Strebe nicht danach, dass dein Gebet aus frischen Worten und noch nie vernommener Musik bestehe. Wenn Kunst oder Gebet originell sein wollen, ist Überspanntheit das Resultat.
Vermeide das Ich, außer in deinen Reuegebeten, und wiederhole inbrünstig das Wir, welches die Gebetsform der Kirche ist. Bete die Psalmen und die Gebete der Litanei in der gebräuchlichen Weise. Und wenn du singst, dann bitte schön die alten Lieder. Komm ja nicht auf den Gedanken, etwas anderes als den gregorianischen Psalmengesang anzustimmen, denn das endet beim Tango.
Sechster und letzter Hinweis - Den Weg, den du gehen wirst gingen vor dir bereits Tausende und Abertausende. Sie erduldeten Mühsal zur Buße und feierten am Ende freudig die Vergebung ihrer Sünden.
Entsinne dich darum, dass in Compostela Wasser fließen, die den Geist reinigen. Und solltest du ebendiese gottgefällige Reinheit für dich erlangen, wirst du keine Zeit verschwendet haben, selbst wenn dich Compostelas andere Reichtümer nicht weiter beeindrucken sollten. Und vielleicht wirst du gar das Geheimnis dieser Stadt ergründet haben, das allen heiligen Stätten gemein ist, hier jedoch offenbarer wird als andernorts: die Gegenwart Gottes."