Tag 73: Palas de Rei(E)-Santa Irene(E), 11h, 18°C



Die Nacht war gut - bis um 4 Uhr, dann bin ich wach. Ich schmiede den Plan für die nächsten zwei Tage. Heute eine 46km Etappe, morgen 25km nach Santiago. Ich wecke Christoph um 6 Uhr, er will mitlaufen. Die spanische Schulklasse ist bereits aufgebrochen. Da es in der Küche wieder kein Geschirr gibt und somit keinen Topf zum Milchwärmen, geht das Frühstück recht schnell, wir brechen im Dunkeln auf. Die Vögel zwitschern, es ist ein milder Morgen.



In Arzúa in der Provinz La Coruña machen wir Mittagspause. Wir kaufen Brot, Milch, Käse und Schokolade in einem Supermarkt ein. Christoph will in Arzúa bleiben, wir haben auch schon 30km in den Beinen heute. Ich möchte noch weiter gehen.
Es geht durch Eukalyptuswälder. Was für ein Vergehen an der Umwelt! Eukalyptus ist kein heimisches Gewächs, es wurde in EU geförderten Programmen im grossen Massstab angepflanzt. Dabei geht diese Baumart sehr verschwenderisch mit dem Boden um. Der Wald sieht auch sehr bescheiden aus, die Rinde blättert in langen Stücken ab, der Boden ist kniehoch übersät mit Rinde. Wikipedia schreibt zu Eukalyptus: "In Südeuropa wird Eukalyptus wegen seiner Schnellwüchsigkeit und guten Holzqualität oft angebaut. Das führt häufig zu Problemen, weil er den Boden bis in die Tiefe austrocknet, den heimischen Tieren keinen Lebensraum bietet, andere Baumarten aggressiv verdrängt und mit seinen hochbrennbaren Ölen Waldbrände fördert. Eukalytus profitiert von Waldbränden, da seine Wurzelstöcke und Samen ein Feuer überleben und sehr schnell wieder austreiben, bevor andere Pflanzenarten sich erholt haben. Der Eukalyptus hat die Eigenschaft, von Zeit zu Zeit ohne Vorwarnung große Äste abzuwerfen, was in Australien schon öfter zu tödlichen Unfällen geführt hat. Daher sollte man niemals unterhalb eines Eukalyptusbaumes kampieren. Dieser Mechanismus hilft dem Baum, Wasser zu sparen, außerdem fördern die herumliegenden Äste die für den Eukalyptus nützlichen Waldbrände, wenn sie nicht regelmäßig weggeräumt werden."



Der Weg fällt mir schwer, die Füsse schmerzen. Es gibt aber keine Unterkünfte vor Santa Irene. Es fängt kurz vor meiner Ankunft an heftig zu regnen. Nur eine Irin ist im Refugio; sehr angenehm, ohne Schulklassen oder grosse Gruppen die letzte Nacht vor Santiago zu verbringen. Ann ist 56 Jahre alt, sie hat ihre Anstellung als Projektmanagerin gekündigt. Sie ist in den letzten Jahren in Etappen von Irland nach Santiago gelaufen. Nun möchte sie in einem Stück von Santiago nach Rom laufen. Sie erwartet im August dort anzukommen. Wow!

Gegen 20Uhr steht Christoph in der Tür. Er ist doch noch gelaufen, der Refugio in Arzúa war voll. Nach einem Mittagsschlaf ist er weitergegangen. Na, dann werden wir heute Nacht wohl noch weitere Besucher erhalten.

Nach dem Essen wankt plötzlich Briane zur Tür herein, sie ist eine Brasilianerin. Ich habe sie erstmals in Villafranca del Bierzo getroffen. Sie isst sehr wenig, gestern Abend war sie in Palas de Rei mit uns in einer Gruppe von Pilgern essen. Sie hat da nur an einem Stück Brot geknabbert.
Briane hat keine Regenkleidung an, nur einen dünnen Pulli. Dabei regnet es draussen in Strömen. Sie ist völlig unterkühlt, wohl auch unterzuckert. Sie sitzt schlotternd auf einem Stuhl und kann weder sprechen noch sich bewegen. Sie sitzt nur teilnahmslos da und zittert.

Ich hole Ann aus dem Bett, sie hatte sich bereits schlafen gelegt. Zum Glück gibt es eine Badewanne, Ann lässt warmes Wasser ein. Ich geben Briane etwas von meinem Honig, damit sie Kohlehydrate aufnimmt und wieder zu sich kommt. Ann zieht sie im Bad aus und hilft ihr in die Wanne, damit sie sich aufwärmen kann. Sie gibt ihr trockene Kleidung, ihre eigenen Sachen sind durchnässt. Wir breiten ihre nassen Sachen vor einem Gasofen aus zum Trocknen. Vor der Heizung schläft Briane dann eine Weile in Decken gehüllt, während Ann für sie ihre Notration Essen kocht. Braine kann nur wenig essen, danach legen wir sie in den Schlafsack ins Bett.

Das war ein lebensgefährliche Aktion. Briane hätte nur stolpern und den Fuss verletzen oder sich verlaufen müssen, dann wäre sie vielleicht erst morgen gefunden worden von den ersten Pilgern. Sie war 5h im kalten Regen gelaufen, immer in der Hoffnung, der Regen würde gleich aufhören. Dabei hatte sie ihre Regenkleidung und etwas Käse im Rucksack. Sie war aber bereits so in Trance, dass es ihr nicht möglich war, ordentliche Kleidung anzulegen und etwas zu essen.